Vor dem Hintergrund neuer Forschungsergebnisse debattierte der Bundestag gestern zum weiteren Vorgehen bei der Finanzierung der Bedarfe contergangeschädigter Menschen sowie Möglichkeiten ihrer Entschädigung.
Meine Rede können Sie hier lesen:
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Firma Grünenthal produzierte und vertrieb Ende der 50er Jahre insgesamt 22 thalidomidhaltige Medikamente, darunter das als ungiftig beworbene Contergan. Innerhalb weniger Jahre machten diese Medikamente insgesamt 50% des Gesamtumsatzes des Unternehmens aus. Obwohl es bereits in dieser Zeit eine politische und fachliche Diskussion über schädigende Auswirkungen von Medikamenten bei Einnahme während der Schwangerschaft gab, hatte der Staat zu Beginn der Debatte um mögliche schädliche Auswirkungen von Contergan in diesem Zusammenhang keine Interventionsbefugnis. Erst durch öffentlichen Druck konnte Grünenthal dazu gezwungen werden, das Medikament vom Markt zu nehmen.
Der Contergan-Skandal hat unsere Gesellschaft verändert. Er hatte, wenn auch zeitlich verzögert erst in den 70er Jahren, Konsequenzen für das Arzneimittelrecht. Die Vorgaben zur Arzneimittelsicherheit wurden verbessert.
Während Grünenthal erhebliche Gewinne machte, wurde und wird den Geschädigten in mehrfacher Hinsicht Unrecht getan: Zeit ihres Lebens wurden sie von medizinischer Forschung objektiviert, sie wurden als "Missgeburten" bezeichnet und wahrgenommen. Für den Verlust an Lebensqualität, den sie erleben, sind sie bis heute nicht angemessen entschädigt worden. Sie müssen bis heute mit Krankenkassen um die Finanzierung ihrer Heil- und Hilfsmittel kämpfen. Mit zunehmenden Alter nehmen auch ihre Schmerzen zu, während gleichzeitig soziale Unterstützungsnetzwerke, etwa durch den Tod der Eltern, wegbrechen.
Als wir hier das letzte Mal über die Situation Contergangeschädigter gesprochen haben, war uns klar, dass die Zahlungen, die sie zur Deckung ihrer Bedarfe erhalten, nicht ausreichend sind. Im Wissen um die unangemessene Versorgungssituation der Betroffenen wurden damals unter anderem die sogenannten Conterganrenten verdoppelt. Die Forderung der Grünen Fraktion, im Rahmen einer Studie die Bedarfe genau zu ermitteln, damit auf dieser Grundlage über weitere Verbesserungen entschieden werden kann, wurde von der damaligen Bundesregierung aufgegriffen und eine Studie an der Universität Heidelberg in Auftrag gegeben.
Die Ergebnisse, die uns aus dieser Studie vorliegen, sind zwar erst vorläufig, dafür aber um so deutlicher: Ungedeckte Bedarfe belasten Contergangeschädigte in einem Ausmaß, das fast nicht vorstellbar ist, wenn man nicht täglich damit lebt. Fast 85% der Befragten leiden an Schmerzen, ihre Bedarfe an Medikamenten, Hilfsmitteln, rehabilitativen Maßnahmen und physikalischer Therapie sind in großen Teilen nicht gedeckt. Nur wenige sind finanziell in der Lage, sie in Eigenleistung zu finanzieren. Der Bedarf an Assistenz im Alltag wird zunehmen, er ist bereits jetzt nicht ausreichend gedeckt. Ein bemerkenswerter Teil der Geschädigten kann aufgrund der Schädigung und mangelnder Versorgung nicht mehr arbeiten, entsprechend bestehen Verdienstausfälle.
Für uns kann das nur eins bedeuten: Wir müssen handeln, und zwar jetzt! Die Betroffenen werden immer älter, ihre Schmerzen nehmen zu. Ihre Bedarfe werden steigen. Deswegen müssen wir jetzt den Schadensausgleich verbessern und regelmäßig überprüfen.
Es wurde bereits diskutiert, inwiefern die Versorgung der Contergangeschädigten über das System der Sozialversicherungen geleistet werden kann. Ich habe schon von den Kämpfen gesprochen, die sich die Geschädigten mit den Krankenkassen immer wieder liefern müssen. Die Kassen weigern sich hartnäckig, Kosten für nötige Heil- und Hilfsmittel zu übernehmen. Zahnimplantate werden nicht gezahlt, selbst wenn Geschädigte sich aufgrund verkürzter Arme Prothesen nicht selbstständig einsetzen können. Das ist nicht das einzige Beispiel, es gibt zahlreiche. Auch die explizite Aufforderung des Ministeriums an die Krankenversicherungen, im Falle Contergangeschädigter unbürokratisch zu agieren, konnte daran nichts ändern. Auch wenn nachvollziehbar ist, dass die Kassen Leistungen zum Ausgleich der Folgen einer Schädigung nicht aus Versicherungsbeiträgen finanzieren möchten, hätte ich mir angesichts der Situation Contergangeschädigter eine konstruktivere Zusammenarbeit und weniger Rücksichtslosigkeit gewünscht. Für uns ist die Konsequenz aus diesen Erfahrungen allerdings eindeutig: Wir müssen die Finanzierung anders absichern als über die Gesetzliche Krankenversicherung. Die Frage, wie man grundsätzlich damit umgeht, dass Krankenkassen scheinbar unbeeindruckt von politischen Entscheidungen ihre eigenen Ziele verfolgen, ist eine, die wir dringend angehen müssen, aber nicht im Rahmen der Entschädigung von Contergan-Opfern regeln können.
Ich habe es schon gesagt, wir müssen schnell handeln. Aus meiner Sicht ist es bereits jetzt möglich, auf Grundlage der Ergebnisse der Heidelberger Studie die "Conterganrenten" zu erhöhen. Selbst wenn bisher keine detaillierten Zahlen vorliegen: Sollte bei der Berechnung eine Unschärfe zugunsten der Betroffenen entstehen, so ist das vor dem Hintergrund der vergangen Jahre ohne Frage hinnehmbar.
Die Bundesrepublik Deutschland steht in der Haftungsnachfolge der Firma Grünenthal. Die Finanzierung von notwendiger Assistenz und von Hilfen im Alltag, von Pflege, rehabilitativer und therapeutischer Maßnahmen, von Umbaumaßnahmen zur Steigerung der Barrierefreiheit im Wohnbereich und die Finanzierung eines Kraftfahrzeugs über die "Rente" ist systematisch gerechtfertigt. Das sollte uns nicht davon abhalten, weiterhin auf Grünenthal einzuwirken, sich an der Finanzierung zu beteiligen. Dass die Firma moralisch in der Pflicht steht, ist wohl schwerlich zu widerlegen.
Natürlich ist eine Nachbefragung durch die Universität Heidelberg zur Ermittlung der tatsächlichen Verluste, die den Betroffenen durch die Conterganschädigung entstanden ist, weiterhin geboten. Ich halte es weiterhin für nötig, auch nach der jetzt durchzuführenden Erhöhung der Renten weiter darüber zu sprechen, in welcher Höhe den Geschädigten eine finanzielle Kompensation für den Verlust an Lebensqualität geleistet werden kann. Wie hoch eine solche zusätzliche Zahlung ausfallen sollte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ich bin der Überzeugung, das wir darüber mit Blick auf die Entschädigungszahlungen, die Opfer von Medikamentenskandalen heute bekommen, weiter diskutieren müssen.
Abschließend möchte ich mich bei allen Betroffenen bedanken, die uns noch immer konstruktiv darin unterstützen, die Situation zu verbessern. Ich kann Ihren Ärger darüber, wie lange nichts oder zu wenig getan wurde, verstehen: Er ist gerechtfertigt. Genau wie das Ende der Geduld. Es ist nun Aufgabe dieses Parlaments, zügig einen Beschluss zu fassen, der Ihnen ein Leben in Würde ermöglicht.
Unten können Sie das Protokoll der gesamten Debatte herunterladen.
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