08.07.2011 – Arbeit und Soziales
Markus Kurth
07.07.2011
Rede zu Protokoll
Sehr geehrte Damen und Herren, es ist gut, dass sich nun auch die Linksfraktion dem Thema „Armuts- und Reichtumsbericht“ widmet. Wie schon in meiner Rede zum Antrag der SPD aus dem Februar diesen Jahres betont, ist es wichtig, die Datengrundlage für den Bericht zu erweitern, die Daten des Sozioökonomischen Panels zu verwenden sowie die Reichtumserfassung zu verbessern. Good Governance ist erst auf der Grundlage einer ausgewogenen und vollständigen Berichterstattung möglich. Zwar ist die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen auf Grund der Wirtschafts- und Finanzkrise in den letzten Jahren etwas zurück gegangen. Mittlerweile wachsen die Einkommen und Vermögen im obersten Bereich allerdings wieder überproportional. Die erwarteten wirtschafts- und haushaltsstrukturellen Veränderungen werden vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung aller Voraussicht nach einen weiteren Anstieg der Einkommens- und Vermögensungleichheit nach sich ziehen. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei den Systemen sozialer Sicherung zu. Sie können bei entsprechender Ausgestaltung einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten. Die bundesdeutschen Sozialversicherungssysteme stehen ihrerseits jedoch vor diversen Herausforderungen. Nicht nur die demografischen Veränderungen setzen die Systeme unter Druck. Immer wieder wird das angeblich zu hohe Leistungsniveau kritisiert. Dabei ist soziale Sicherung in Deutschland heute viel mehr als die klassische Sozialversicherung Bismarckscher Prägung, die zuvörderst eine Antwort auf die Bedürfnisse der sich entwickelnden Industrie darstellte. Letztere war zunehmend auf verlässliche Arbeitskräfte angewiesen, die ohne eine Absicherung gegen das elementare Risiko „Erwerbsunfähigkeit durch Krankheit oder Unfall“ nicht dauerhaft zu binden waren. Nicht zufällig markieren die Kranken- und Unfallversicherung den Beginn des gegliederten Systems der sozialen Sicherung in Deutschland. Das heutige System der sozialen Sicherung beschränkt sich nicht mehr allein auf ein System von Lohnersatzleistungen. Der moderne Wohlfahrtsstaat stellt mit seinem breit gegliederten Sozialrechtssystem aus Entschädigung, Vorsorge, Förderung und Hilfe längst eine wesentliche Voraussetzung für soziale und wirtschaftliche Entwicklung dar. Leider ist diese Erkenntnis der Produktivitäts- und Stabilisierungsfunktion sozialer Sicherung in den letzten Jahren in den Hintergrund getreten. Es ist seit geraumer Zeit von einer Krise des Sozialstaats die Rede, die weniger die - in der Tat zu kritisierende - Institutionenfokussierung in den Blick nimmt, als vielmehr die fiskalischen Auswirkungen eines angeblich zu hohen Leistungsniveaus. Die Senkung der Sozialabgaben ist dabei zu einem neuen Mantra wirtschaftlichen Wachstums und der Arbeitsplatzschaffung geworden. Außerdem wirkten sich, so die Gegner eines angeblich überbordenden Sozialstaats, soziale Transfers wettbewerbsverzerrend und letztlich hemmend auf Leistungsanreize aus. Eine solch einseitige Diskussion auf die kurzfristigen Kosten reduziert die Sozialpolitik nicht nur auf die Gewährung von Lohnersatzleistungen. Sie zeigt dabei auch, dass Systeme sozialer Sicherung einem enormen Rechtfertigungsdruck unterliegen, mit dem es sich gilt, stets aufs Neue auseinanderzusetzen. Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Sozialausgaben die Risikobereitschaft und damit auch das wirtschaftliche Wachstum positiv beeinflussen. Auch jüngste Studien der Prognos AG aus dem Jahr 2009 zu Kosten und Nutzen medizinischer Rehabilitation, eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln aus dem Jahr 2010 zur beruflichen Rehabilitation in den deutschen Berufsbildungswerken (BBW) sowie eine Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) aus diesem Jahr zu den Wohlfahrtsverlusten auf Grund mangelnder beruflicher Qualifikation von Jugendlichen belegen den volkswirtschaftlichen Investitionscharakter von Sozialausgaben. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung sowie das Bewusstsein hierüber sind allerdings sehr überschaubar. Auch die vergleichende Wohlfahrtsforschung, bei der Wohlfahrtsstaaten oft nur von ihrer Leistungsseite betrachtet werden, tut sich mit den wirtschaftlichen und politischen Aspekten der Sozialpolitik recht schwer. In der Folge ist und bleibt es schwer, sich gegenüber solchen Kräften zu behaupten, die soziale Leistungen vorrangig als Kostenfaktor brandmarken. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, auf der Grundlage einer die Realität abbildende Armuts- und Reichtumsberichterstattung die sozialen Sicherungssysteme im diesem Sinne zu stärken und gegen Angriffe zu verteidigen. Allerdings überfrachtet der Antrag der Fraktion Die Linke die Armuts- und Reichtumsberichterstattung mit ihren parteipolitischen Forderungen. Würde man diesem Vorschlag folgen, würde der Armuts- und Reichtumsbericht eher geschwächt als gestärkt. Eine Berichterstattung, die sich dem Verdacht aussetzt, tendenziös zu sein, kann keine politische Durchschlagskraft entfalten.