Fachgespräch: Barrierefreie Mobilität im Bahnverkehr
Hier können Sie einen Bericht von der Veranstaltung lesen und die Präsentationen der ReferentInnen herunterladen.
Barrierefreie Mobilität im Bahnverkehr zu gewährleisten ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention dringend geboten. Wie an aktuellen verkehrspolitischen Entwicklungen - wie etwa der mangelnden Berücksichtigung der Gewährleistung von Barrierefreiheit im Zuge der Liberalisierung des Fernbusverkehrs - sehr deutlich wird, ist die Bedeutung der Sicherung von Barrierefreiheit noch nicht in allen Köpfen angekommen. Die Grüne Bundestagsfraktion lud am 12. Dezember zu einem Fachgespräch, ein, um den konkreten Handlungsbedarf zur Gewährleistung barrierefreier Mobilität im Schienenverkehr zu bestimmen. Mit etwa 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmern sprachen wir über die Gestaltung der Infrastruktur, die Schienenfahrzeuge und die Fahrgastrechte. Um das Recht auf Mobilität für alle Menschen im Schienenverkehr zu verwirklichen, muss dabei der gesamte Reisevorgang in den Blick genommen werden: Von der Informationsbeschaffung durch Kundinnen und Kunden vor der Reise, über eine entsprechend ausgelegte Infrastruktur (einschließlich der Zuwege zum Bahnhof, der Bahnhöfe selbst und den barrierefreien Einstieg ins Fahrzeug) bis zur Fahrzeugtechnik- und flotte. Auch der Informationsaustausch zwischen den KundInnen und dem Unternehmen sowie zwischen unterschiedlichen Anbietern während und nach der Reise müssen berücksichtigt werden.
Barrierefrei sind alle baulichen Anlagen, Verkehrsmittel und Informationssysteme nach § 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) nur dann, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar gemacht werden. Mit dem BGG wurde zwar in die Eisenbahn-Bau- und -Betriebsordnung (EBO) die Verpflichtung für die Eisenbahnen aufgenommen, ihre Anlagen und Fahrzeuge so zu bauen und zu betreiben, dass sie von behinderten Menschen ohne besondere Erschwernis nutzbar sind. Eine wirkliche Barrierefreiheit im Sinne einer grundsätzlich selbständigen Nutzungsmöglichkeit behinderter Menschen ohne fremde Hilfe wurde jedoch nicht angestrebt.
In ihrer Einführung stellte Heike Witsch, Expertin für Barrierefreiheit beim Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter, klar, dass auch Familien, ältere Menschen, Radfahrende und Reisende mit Gepäck von Barrierefreiheit profitieren. Dieses Spektrum allein mache auch deutlich, welche Spannbreite Barrierefreiheit abdecken kann und muss. Barrierefreiheit erschöpfe sich nicht in der sinnvollen Umsetzung technischer Standards für Rollstuhlfahrer. Damit blinde und sehbehinderte Menschen ohne fremde Hilfe mit der Bahn reisen können, bedarf es anderer Maßnahmen als für taube, gehörlose und schwerhörige Menschen. So wies ein Vertreter des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes im Laufe der Veranstaltung darauf hin, dass technisch machbare Lösungen, wie eine nach Zugteilen differenzierte Ansage für blinde Menschen äußerst wichtig seien, von der Bahn aber nicht umgesetzt würden. Hilfreich wäre sie mit Sicherheit für alle Reisenden. Frau Witsch berichtete weiter über die Zusammenarbeit der Deutschen Bahn AG und einiger Privatbahnen mit Verbänden behinderter Menschen, bemängelte aber gleichzeitig, dass fast zehn Jahre nach Inkrafttreten des Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes lediglich fünf Bahnunternehmen ihrer Verpflichtung zur Erarbeitung von Programmen zur Schaffung von Barrierefreiheit nachgekommen sind. Das Eisenbahnbundesamt erfülle seine in diesem Zusammenhang bestehende Kontrollaufgabe ebenfalls nicht. Es bestehe erheblicher Handlungsbedarf bei der Durch- und Umsetzung der Lösungen, die seit langem existiertern.
Panel 1: Infrastruktur
Im ersten Panel stand der Zugang zu Bahnhöfen und Schienenfahrzeugen im Mittelpunkt. Bei der barrierefreien Gestaltung von öffentlichen Nahverkehrsmitteln und Verkehrsanlagen wurden in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland Fortschritte erzielt. Stefan Wilhelm, Geschäftsführer der Agentur Bahnstadt zeigte zahlreiche Beispiele für gelungene und weniger gelungene Lösungen zur Herstellung von Barrierefreiheit. Er plädierte für individuelle Lösungen vor Ort, die gemeinsam mit Vertretern von Behindertenverbänden schon vor Beginn der konkreten Planungen entwickelt werden müssen. Bei der baulichen Gestaltung von Zugängen seien kreative Lösungen gefragt, z.B. beschrankte ebenerdige Gleisübergänge zu Bahnsteigen. Susanne Henckel, Hauptgeschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Aufgabenträger des Schienenpersonennahverkehrs (BAG SPNV) warb ebenfalls für ortsangepasste Lösungen, die auch mal von europäischen Vorgaben abweichen. Denn aufwendige Standards, die an jeder kleinen Station umgesetzt werden müssten, verhinderten ihrer Ansicht nach Umbauten, da diese dann aus Geldmangel unterblieben. Uwe Marxen, Leiter des Regionalbereichs Ost der DB Station und Service AG berichtete über den Stand der Erreichung von Barrierefreiheit bei Bahnhöfen und Stationen. Durch den Aufbau mobiler Teams würden seit Mitte 2009 Mobilitätshilfen an mehr als 65 zusätzlichen Standorten in ganz Deutschland angeboten. Die Ablehnungsquote für Mobilitätshilfen läge bei derzeit bei 0,5 Prozent.
In der Diskussion wurde u.a. Kritik an den Mobilitätshilfen laut. Mehrere Teilnehmende berichteten, dass sie immer wieder Probleme mit Unterstützung hätten. Gehörlose Teilnehmer machten auf eklatante Kommunikationsprobleme aufmerksam. Informationen in Deutscher Gebärdensprache seien nicht in ausreichendem Maß erhältlich und bei kurzfristigen Fahrplanänderungen seien gehörlose und schwerhörige Menschen oft von relevanten Informationen abgeschnitten. Aus der Sicht von Menschen mit Lernschwierigkeiten müsste der Kauf von Fahrkarten am Automaten besser erklärt werden. Größere Schrift auf Fahrplänen ist sowohl für Menschen mit Lernschwierigkeiten als auch für sehbeeinträchtigte Menschen wichtig.
Panel 2: Schienenfahrzeuge
Dr. Klaus Baur. Präsident des Verbands der Bahnindustrie erläuterte, dass die Bahnindustrie Barrierefreiheit in Schienenfahrzeugen eine große Bedeutung beimessen würde. So würden neue Zuggenerationen nach europäischen Vorgaben ausgestattet. Stefan Wingenfeld, Leiter Zugkonzeption und neue Technologien bei der DB Fernverkehrs AG stellte am Beispiel der Grundüberholung ("Redesign") des ICE 2 Beispiele für eine verbesserte Barrierefreiheit vor, z.B. ein Blindenleitsystem und zusätzliche Haltegriffe. Der ICx als Nachfolge-Zuggeneration, der IC/EC sowie ICE 1 und ICE 2 in den nächsten Jahren ersetzen soll, wird mit Hubliften ausgestattet und noch weitergehende barrierefreie Lösungen bieten. Dr. Volker Sieger, Leiter des Instiuts für barrierefreie Gestaltung und Mobilität regte an, dass das Eisenbahnbundesamt die Programme zur Herstellung von Barrierefreiheit überprüft und ein entsprechender Kompetenzaufbau bei dieser Behörde stattfindet. Zudem wies er darauf hin, dass europäische Vorgaben zur barrierefreien Gestaltung von Schienenfahrzeugen häufig noch immer Barrieren zuließen. Sie seien unter Einbeziehung der Verbände behinderter Menschen dringend zu überarbeiten.
In der Diskussion standen vor allem die Doppelstockzüge in der Kritik. Herr Wingenfeld wies darauf hin, dass die neuen Doppelstockzüge mit einem Schiebetritt ausgestattet seien. Schließlich wurde die Frage aufgeworfen, warum es nicht möglich sei, an allen Bahnsteigen transportable Überlagerampen vorzuhalten. Die Problematik der Höhenunterschiede und des Spalts zwischen Zug und Bahnsteigkante bliebe uns schließlich noch eine Weile erhalten.
Panel 3: Fahrgastrechte
Im letzten Panel der Veranstaltung standen die Fahrgastrechte im Mittelpunkt. Eingeladen waren Edgar Isermann, Leiter der Schlichtungsstelle für öffentlichen Personenverkehr (söp), sowie Ellen Engel, Leiterin der Kontaktstelle für kundenbezogene Behindertenangelegenheiten der DB Fernverkehr AG. Diskussionsgegenstand war neben der Fahrgastrechte-Verordnung (EG-VO 1371/2007) vor allem die Arbeit der Schlichtungsstelle. Diese wurde gemäß § 37 Eisenbahn-Verkehrsordnung (EVO) eingerichtet und in den ersten beiden Jahren von ca. 4500 Bahnkunden aufgesucht, die sich verärgert über die Antworten auf ihre Beschwerden zeigten. Herr Isermann betonte die positive Rolle der Schlichtungsstelle als neutrale Instanz bei bisher erfolglosen Beschwerden. In 90 Prozent der Fälle war der Schlichterspruch erfolgreich. Bei besonderen Problemen von Menschen mit eingeschränkter Mobilität oder Behinderung lag die Quote gar bei 100 Prozent. Bislang wurde allerdings in lediglich 13 Fällen die Schlichtungsstelle im Zusammenhang mit Beschwerden angerufen, bei denen die Beeinträchtigung des Fahrgastes eine Rolle spielte. Da nur einer kleinen Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung die Schlichtungsstelle bereits bekannt war, liegt die Vermutung nahe, dass die geringe Zahl der Anfragen auch mit dem bisher geringen Bekanntheitsgrad der Schlichtungsstelle in den entsprechenden Zielgruppen in Zusammenhang steht. An Frau Engel richteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Reihe von kritischen Fragen, die nur teilweise zufriedenstellend beantwortet wurden. So sei beispielsweise die Bereitstellung einer Hilfeleistung über den Mobilitätsservice weiterhin nur auf Bahnhöfen möglich, an denen es auch Personal dafür gebe. Zur Zahl der Personen mit Mobilitätseinschränkungen, die sich mit Beschwerden direkt an die Deutsche Bahn wenden, wollte Frau Engel keine Auskunft geben. Die Zusammenarbeit mit der Schlichtungsstelle laufe hingegen weitgehend zufriedenstellend. So hat die DB den Hinweis auf die Existenz der Stelle beispielsweise in ihre Fahrgastinformationen aufgenommen.
Fazit
Die Frage, wie sich bundeseigene Unternehmen wie die Bahn strategisch ausrichten können, um Barrierefreiheit zu gewährleisten, muss auch nach der Veranstaltung offensiv gestellt werden. Wichtige Kriterien für die einzelnen Bereiche - Infrastruktur, Fahrzeuge und Fahrgastrechte - wurden im Rahmen des Fachgesprächs beleuchtet. Nachdem die Verkehrsministerkonferenz die Aufgabenträger des Schienenpersonennahverkehrs Anfang 2011 bereits aufgefordert hat, die über etablierte europäische Standards (wie die Norm zur barrierefreien Gestaltung von Zügen und Bahnanlagen TSI PRM) hinausgehenden Anforderungen an barrierefreie Gestaltung des Bundeskompetenzzentrums Barrierefreiheit (BKB) zu berücksichtigen, muss der politische Druck weiter aufrechterhalten werden. Barrierefreiheit ist zur Sicherung der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen unerlässlich.
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