Leserbrief an die FAZ: Inklusive Bildung ist keine Gleichmacherei
Hier können Sie unsere Reaktion auf zwei Artikel lesen, in denen mit Unterstellungen gegen den gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder polemisiert wird.
Sehr geehrte Damen und Herren,
am 8. Dezember konnten Bernd Ahrbeck und Rainer Winkel in Ihrer Zeitung die Gelegenheit nutzen, die Befürworter eines gemeinsamen Regelunterrichts von Kindern mit und ohne Behinderungen als radikale, gar fanatische Ideologen darzustellen. Den Befürwortern der inklusiven Schule wird in den beiden Namensartikeln unterstellt, dass sie weder die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verstanden noch ein Interesse am Wohl behinderter Kinder hätten. Die zwei Autoren erklären sich zu Verfechtern des Kindeswohls, die "nüchtern" sowohl die Gesetzeslage als auch zahlreiche Studien betrachten. Ihre argumentative Strategie besteht allerdings im Wesentlichen darin, Unterstellungen und Mutmaßungen zu verbreiten: Als beispielhaft für den gemeinsamen Unterricht wird beschrieben, wie Kinder mit Down-Syndrom mit dem Ausmalen von Mandalas beschäftigt werden, während der Rest der Klasse Englisch lernt. Sollte sich diese Szene tatsächlich ereignet haben - sie wäre ein Beispiel pädagogischen Versagens des Lehrpersonals und auch dafür, wie man inklusiven Unterricht gerade nicht machen darf. Daraus aber abzuleiten, so stellten sich diejenigen, die das gemeinsame Lernen von Menschen mit und ohne Behinderungen für eine gesellschaftliche Entwicklungschance halten, allgemein den gemeinsamen Unterricht vor, ist infam.
Besonders neuer Argumente bedienen sich Ahrbeck und Winkel jedenfalls nicht. Gebetsmühlenartig erklären sie, dass der Hinweis auf die gesellschaftlichen Bedingungen, die Menschen mit bestimmten Merkmalen Chancen nehmen, zur Realitätsleugnung führe. Behinderung sei nun einmal ein "Defizit", das sich nicht wegdiskutieren ließe. Herr Ahrbeck unterstellt gar, die Inklusionsbefürworter seien darauf aus, die Besonderheiten behinderter Kinder aus der Welt zu schaffen, indem sie ihnen ihren begrifflichen Hintergrund entzögen.
Menschen mit Behinderungen äußern sich indes in eigener Sache seit Jahrzehnten anders. Der Kampfruf der Selbsthilfebewegung "Man ist nicht behindert, man wird behindert." ist mehr als 30 Jahre alt. Überzeugend haben Menschen mit Behinderungen vor allem den Nichtbehinderten erklärt, dass ihre gesellschaftliche Teilhabe nicht durch ihre Körper oder geistige Verfassung eingeschränkt wird, sondern durch Treppen, durch schwierige Sprache, zu wenig Zeit und durch Gesetze, die ihren Lebensbedingungen nicht gerecht werden. Auch mangelnde Unterstützungsleistungen und Sonderwelten wie Förderschulen und Werkstätten wurden als Teilhabebeeinträchtigungen benannt. Menschen mit Behinderungen haben den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse gelenkt, die es zu ändern gilt. Herr Winkel scheint eines nicht zu verstehen: Einer individuellen körperlichen, mentalen oder geistigen Beeinträchtigung folgt dann eine gesellschaftlich produzierte Behinderung, wenn die Gesellschaft ihre sozialen, kulturellen und gebauten Umweltbedingungen nicht so gestaltet, dass sie der Unterschiedlichkeit der Menschen gerecht werden können. Für Herr Winkel ist Behinderung (und man würde sich wünschen er meinte hier das gesellschaftliche Verhältnis) ein Defizit, behinderte Kinder nennt er die "Mühseligen und Beladenen". Insofern kann man ihm vielleicht zugute halten, dass er die Kampagne des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, die mit dem Slogan "Behindern ist heilbar" wirbt, nicht bewusst verzerrt, sondern schlicht nicht begreift.
Es ist purer Unfug zu behaupten, wer sich für die Gestaltung einer Gesellschaft einsetzt, die allen Menschen gleiche Chancen einräumt, leugne die Unterschiede zwischen den Menschen. Inklusion kann nur funktionieren, wenn Menschen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen berücksichtigt werden und Gesellschaft ihnen entsprechend strukturiert wird. Inklusion ist gerade keine Gleichmacherei. Und selbstverständlich kann es bei der Schaffung eines inklusiven Bildungssystems nicht darum gehen, dass "das Alltägliche (...) eine fachspezifische Professionalität" ersetzt, wie Herr Ahrbeck meint. Die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention am Deutschen Institut für Menschenrechte formuliert es in ihrer Stellungnahme zum gemeinsamen Unterricht treffend: Mit Inklusion verbindet sich "(...) eine hoch anspruchsvolle pädagogische, am einzelnen - auch dem nicht behinderten - Menschen und gleichzeitig der heterogenen Gesamtgruppe ausgerichtete Praxis".
Ein inklusives Schulsystem muss höchsten Qualitätsstandards genügen - in dieser Anforderung liegt zugleich eine der größten Gefahren, die auch uns Sorge bereitet: Die inklusive Schule darf nicht zum Sparmodell werden. Mangelnde Ausstattung und Unterfinanzierung der Schulen sind der beste Weg, ein gutes Konzept zu diskreditieren. Deswegen ist es wichtig, die wirklichen Ursachen für schlecht gemachten gemeinsamen Unterricht in den Blick zu nehmen. Herr Winkel muss sich keine Sorgen machen: Sonderschullehrer mögen gut Auto fahren und Parkplätze finden können, wir brauchen sie aber auch in einem inklusiven System als qualifizierte Pädagoginnen und Pädagogen, nur eben an der richtigen Stelle, den allgemeinbildenden Schulen. Bislang leisten diese Einrichtungen eben nicht die interne Differenzierung, sondern sortieren Schülerinnen und Schüler, die vermeintlich oder tatsächlich stören, einfach aus.
Indiz dafür, dass sich dieser Trend verstärkt, ist die Tatsache, dass Schulen mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung im Vergleich mit anderen Förderschulen den höchsten Zuwachs an neuen Schülerinnen und Schülern haben. Dies ist Symptom einer Bildungspolitik, die den allgemeinbildenden Schulen nicht genug Raum und Ressourcen lässt, auch Kinder mit herausfordernden Verhaltensweisen entsprechend zu fördern. Solange es die Möglichkeit gibt, diese Kinder an Förderschulen abzugeben, wird dies vor dem Hintergrund finanzieller Engpässe geschehen. Es ist - auch angesichts der großen Unterschiede zwischen den Bundesländern - offensichtlich, dass der Anspruch auf gemeinsamen Unterricht nicht daran scheitert, dass die Konzepte schlecht sind.
Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist eine große politische Herausforderung. Wir brauchen dazu Menschen mit und ohne Behinderungen, die das Selbstbestimmungsrecht behinderter Menschen und ihre Würde auf allen gesellschaftlichen Ebenen mit Nachdruck vertreten. Man würde sich wünschen, die Bedenkenträger suchten sich die richtigen Feinde. Die Vorstellung, dass sich eine Gesellschaft so einrichten muss, dass sie den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird - das nämlich ist Inklusion - wird sicher nicht der Grund dafür sein, dass behinderte Kinder schlecht gefördert werden.
Markus Kurth MdB (sozial- und behindertenpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag) und Carola Pohlen, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Markus Kurth
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